Klimaneutraler Gebäudebestand: Der smarte Energiemix macht’s

ca. 8 Minuten Lesezeit

03.02.2023

Dass der Gebäudebestand klimaneutral werden muss, steht außer Frage. Nur wie? Klar ist: Dämmen alleine reicht nicht. Es braucht ganzheitliche Lösungen. In einem Forschungsprojekt der Fraunhofer-Institute unter Beteiligung des Wohnungskonzerns Vonovia probt man im Ruhrgebiet die Zukunft.

  • In der Energiezentrale der Zukunft (EZZ) in Bochum lässt sich Sektorenkopplung live in einem Quartier erleben.
  • Die EZZ ist eingebunden in ein Forschungsprojekt des Open District Hub, das vom Land Nordrhein-Westfalen mit 6,2 Millionen Euro gefördert wird.
  • Zu den Forschungspartnern gehören mehrere Fraunhofer-Institute sowie das Startup Ampeers Energy.

 

Bochum-Weitmar, ein Stadtteil im Südwesten der Ruhrgebietsmetropole. Hier, gar nicht weit von der Unternehmenszentrale entfernt, liegt eines der größten Quartiere des Immobilienkonzerns Vonovia. Die rund 230 Mehrfamilienhäuser mit mehr als 1.500 Wohnungen stammen noch aus den 1950er und 1960er Jahren und wurden in den vergangenen Jahren teilweise schon energetisch saniert.

Zwischen einigen kleineren Häusern steht ein moderner, aber unscheinbarer Bungalow, der gut in einen Ferienpark in Holland passen würde. Hier zählen die inneren Werte: Durch die drei bodentiefen Fenster an der Front sieht man anstelle einer Wohnzimmergarnitur große und kleine Rohre, Stahlschränke und feuerrote Röhren, die in Reih und Glied nebeneinander stehen.

Foto: Vonovia
Die Energiezentrale der Zukunft steht mitten im Quartier zwischen den Häusern aus den 1950er und 1960er Jahren.

Energiespeicher Wasserstoff

"Energiezentrale der Zukunft", kurz EZZ, hat Deutschlands größter Immobilienkonzern das Gebäude selbstbewusst getauft. Denn der Bungalow mit dem Vonovia-Schriftzug ist bis in den Keller vollgestopft mit moderner Technik. "Das Einzigartige ist: Hier lässt sich Sektorenkopplung live in einem bestehenden Quartier erleben", schwärmt Tobias Hofmann, Leiter Quartierssysteme bei Vonovia und einer Initiatoren der EZZ.

Sektorenkopplung meint die intelligente Verknüpfung von Strom, Wärme und Mobilität. Die EZZ versorgt bis zu 81 Häuser mit Strom und Wärme. Ein so genannter Elektrolyseur nutzt den Strom, den die Photovoltaikzellen auf den umliegenden Gebäuden liefern, zur Erzeugung von Wasserstoff. Im Winter wird der Wasserstoff wieder in Strom für die beiden Wärmepumpen im Keller der EZZ dient. Diese heizen das Heizwasser auf etwa 45 Grad Vorlauftemperatur. Da in den meisten angeschlossenen Häusern noch Radiatoren als Heizkörper dienen, die höhere Vorlauftemperaturen benötigen, sind dort weitere Wärmepumpen vorgeschaltet. "Im Notfall können wir zusätzlich mit Gas heizen. Aber wir gehen davon aus, dass wir in milden Wintern wie aktuell ganz ohne Gas auskommen", sagt Hofmann.

Foto: Vonovia/Simon Bierwald
Für Tobias Hofmann, Leiter Quartierssysteme bei Vonovia, liegt die Zukunft der Energieversorgung im Quartier.

Klimaschutz als Geschäftsmodell

Die EZZ ist eingebunden in ein Forschungsprojekt des Open District Hub (ODH). Der Verein wurde 2018 von der Fraunhofer-Gesellschaft mit namhaften Partnern aus der Wirtschaft ins Leben gerufen, um innovative Lösungen zur Sektorenkopplung im Quartier zu erforschen und auf diese Weise die Energiewende voranzutreiben. Dabei untersuchen die Forscher auch, ob sich die energetische Sanierung mit neuen Geschäftsmodellen wie Mieterstrom und Ladestromsäulen verbinden lässt, damit sich die Investitionen schneller amortisieren. "Bei Mehrfamilienhäusern ist Klimaschutz wirklich ein Geschäftsmodell. Generell kann energetische Sanierung unserer Erfahrung nach zu Renditen zwischen 4 und 10 Prozent auf die Investition führen", sagte in einem Interview des Manager Magazins Dr. Karsten Schmidt, stellvertretender Vorsitzender des ODH und Gründer des Startups Ampeers Energy, das sich auf die CO2-Reduzierung für Gebäude spezialisiert hat und auch in Bochum-Weitmar beteiligt ist.

Dr. Karsten Schmidt

stellvertretender Vorsitzender des ODH und Gründer des Startups Ampeers Energy

Bei Mehrfamilienhäusern ist Klimaschutz ein Geschäftsmodell. Generell kann energetische Sanierung zu Renditen zwischen 4 und 10 Prozent führen.

Komponenten im IKT-Ökosystem ODH@Bochum-Weitmar

Das Projekt ist eines von sieben ODH-Modellquartieren in Deutschland und wird Ende März 2023 abgeschlossen. Gefördert durch das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes NRW (MWIKE NRW) entwickelten die Fraunhofer-Institute IOSB-INA, UMSICHT, das FIT und das IOSB-AST in Zusammenarbeit mit Vonovia und Ampeers Energy ein offenes, nutzerorientiertes Gesamtsystem für cross-sektorale Energiesysteme. Drei Teilkomponenten wurden hierfür im Rahmen des Forschungsprojektes ODH@Bochum-Weitmar entwickelt:

Foto: ODH

1. Selbstlernendes Energiemanagementsystem

Foto: Fraunhofer IOSB-INA
Gesamtprojektleiterin Michaela Lödige

Eine Schlüsselrolle in dem Projekt spielt u. a. ein so genanntes Selbstlernendes Energiemanagementsystem. "Es soll optimierte Fahrpläne für die Energie- und Stromversorgung liefern", erklärt die Gesamtprojektleiterin Michaela Lödige vom Institutsteil für Industrielle Automation des Fraunhofer Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (Fraunhofer IOSB-INA). Kurz gesagt zeichnet das System auf, wann die Photovoltaikzellen wie viel Strom erzeugen und welche Bedarfe bestehen, um den Strom immer dort zu nutzen, wo er den größten Nutzen stiftet. Das kann bedeuten, zunächst den aktuellen Strombedarf in den angeschlossenen Häusern zu decken, im Anschluss Ladesäulen für Elektroautos zu "beliefern" und die verbleibenden Überschüsse für die Wasserstofferzeugung zu nutzen.

2. Integrales Quartiersplanungssystem: Solide Grundlage für die Quartiersplanung

"Ein weiteres Modul ist ein Integriertes Quartiersentwicklungstool", ergänzt Lödige und erläutert: "Anhand von Szenarien und Modellannahmen können wir die Kosten und CO2-Einsparungen der eingesetzten Technologien berechnen. Auf dieser Basis haben Quartiersplaner bei der Modernisierung eine Entscheidungsgrundlage für die Technologieauswahl durch gleichzeitige Betrachtung von Erzeugungstechnologien, Sanierung und E-Mobilität."

3. Digitaler Marktplatz im Quartier

Die dritte Komponente stellt eine Digitale Marktplattform dar, für die im Rahmen des Projektes wichtige Bausteine konzeptioniert wurden. In den Grundzügen dient die DMP als Informationsplattform, um vorhandene Messdaten zur Einspeisung und Bezug für berechtigte Teilnehmende zu visualisieren. In einem weiteren Schritt kann die DMP als Abrechnungsplattform dienen. Hierdurch werden die Produkte "Mieterstrom" und "Quartiersstrom" ermöglicht. In der dritten Stufe stellt die DMP eine vollumfängliche Handelsplattform dar, die auch Peer-to-Peer-Handel abbildet.

"Das Fernziel ist, den Autarkiegrad zu steigern, indem lokal erzeugte grüne Energie mit erneuerbarem Strom aus dem Netz sinnvoll kombiniert wird. In Simulationen lassen sich CO2-Einsparungen bereits erreichen. Nun möchten wir unsere Ergebnisse gerne anhand der Realdaten aus der EZZ überprüfen", sagt Lödige. Zu diesem Zweck wurde das Projekt, das eigentlich im September 2022 auslaufen sollte, bis März 2023 verlängert, und ein Folgeprojekt ist in Planung.

Eine Gemeinschaftsaufgabe

Vonovia will die Erkenntnisse aus Bochum-Weitmar nach und nach auf seine weiteren rund 700 Quartiere ausrollen. "Die Zukunft des klimaneutralen Gebäudebestands liegt im Quartier", ist auch Quartiersentwickler Tobias Hofmann überzeugt. Für ihn ist es selbstverständlich, dass man die Daten der EZZ dem ODH-Projekt und damit potenziell auch weiteren Wohnungsgesellschaften zur Verfügung stellt. Denn Vonovia-Chef Rolf Buch hat mehrfach deutlich gemacht, dass ein klimaneutraler Gebäudebestand über den gesamten Lebenszyklus der Häuser nur erreichbar ist, wenn alle mitziehen: Politik, Wissenschaft und die gesamte Wirtschaft. Und am Ende auch die Mieterinnen und Mieter.

GdW und Pax-Bank fordern: Mieterstrom vereinfachen

"Klimaneutralität bei Immobilien – Wie ist das zu schaffen?" Über diese Frage diskutierte auch Christian Hartmann, Regionaldirektor und Bereichsleiter Institutionelle Kunden, bei der Nachhaltigkeitstagung der Pax-Bank Anfang November. Seine Gesprächspartner waren Dr.-Ing. Ingrid Vogler, Leiterin Energie und Technik beim Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. (GdW), sowie Rouven Meister, Geschäftsführer der Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft mbH. Auch dort stammt der Wohnungsbestand überwiegend aus den 1950er bis 1970er Jahren. Anders als früher gehe man bei der Sanierung inzwischen ganzheitlich vor. "Eine Herausforderung sind die langen Wartezeiten für die Anlagentechnik. Wenn morgen der Brennwertkessel kaputt geht, werden wir wieder die Gasheizung einbauen", sagte Meister.

GdW-Expertin Vogler, deren Verband etwa 30 Prozent aller Mietwohnungen in Deutschland vertritt, forderte von der Politik einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Dämmen und Energieeinsparung hin zum Fokus auf den erneuerbare Energien und "0 C02 im Betrieb". Sie beklagte in diesem Zusammenhang: "Die derzeitigen Rahmenbedingungen sind nicht geeignet, lokalen Strom aus Photovoltaik (PV) als Mieterstrom unkompliziert und planungssicher anzubieten und so den Ausbau von PV insbesondere in urbanen Räumen voranzubringen. Des Weiteren bestehen Hemmnisse beim Einsatz von lokalem PV-Strom für Wärmepumpen und für Allgemeinstrom sowie im Quartierszusammenhang."

Aus diesem Grund hat die Pax-Bank kürzlich einen Brief an Sven Giegold geschrieben, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), der bei der Nachhaltigkeitstagung ebenfalls zugeschaltet war. Dort greift die Pax-Bank 4 Lösungsansätze des GdW auf:

  1. Mieterstrom vereinfachen und als Betriebskosten behandeln in Kombination mit einer Ergänzung von Verbraucherschutzregelungen. Die Kostenverteilung auf die Mieter könnte – analog zur Heizkostenverordnung – in einer neu zu erstellenden "Stromkostenverordnung" geregelt werden.
  2. Die Durchleitung durch öffentliche (Verteil-)Netze bei reduziertem Netzentgelt erlauben.
  3. PV- und Solarthermie-Anlagen sollten auf Denkmalen grundsätzlich erlaubt sein, aber mit Einspruchsmöglichkeit der Denkmalämter.
  4. Umlagefähigkeit von lokal produziertem Allgemein- und Wärmepumpenstrom: Es ist davon auszugehen, dass Vermieter den eigenerzeugten PV-Strom vom Dach im Rahmen der Betriebskostenabrechnung als Eigenleistung umlegen können. Sollte das BMWK dies anders sehen, wäre eine Regelung zur Umlage der Kosten von PV-Strom im Rahmen der Betriebskosten-Verordnung notwendig.

Eine Antwort des Staatsekretärs Giegold steht bislang noch aus.

Ihr Ansprechpartner bei der Pax-Bank

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