"Von einer Pflegereform erwarte ich mehr"

ca. 11 Minuten Lesezeit

02.06.2021

Am 8. und 9. Juni fand in Berlin die Bundestagung des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) statt, bei dem auch die Pax-Bank vertreten war. Im Vorfeld sprach VKAD-Geschäftsführer Andreas Wedeking über die jüngsten Vorstöße von Jens Spahn zur Verbesserung der Pflege und die Gründe für die Ablehnung eines Flächentarifvertrags durch die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas.

  • Zu Beginn der Legislaturperiode hatte Gesundheitsminister Jens Spahn eine große Pflegereform angekündigt.
  • Nun hat das Kabinett einen Entwurf von Spahn gebilligt.
  • Versorgungsverträge für Alten- und Pflegeheime sollen künftig daran gebunden sein, dass sie Tariflöhne zahlen.

Herr Wedeking, nachdem Arbeitsminister Hubertus Heil Anfang Mai ein Pflege-Tariftreue-Gesetz ins Spiel gebracht hat, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt ein Gesetz auf den Weg gebracht. Glauben Sie, dass es vor der Bundestagswahl noch zu der lange versprochenen Pflegereform kommt?
Andreas Wedeking: Das, was der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege seit Anfang Mai zur Stellungnahme vorliegt, ist noch kein Referentenentwurf, sondern es sind Änderungsanträge für das laufende Gesetzgebungsverfahren. Sie enthalten Änderungen, die in eine richtige Richtung weisen wie die geplante Entlastung beim pflegebedingten Eigenanteil. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn sie würde bessere Löhne ermöglichen. Auch die neue Personalbemessung ist enthalten. Aber eine wirkliche Reform würde nach meinem Empfinden eine viel größere Beteiligung der Experten erfordern. Das ist allein zeitlich bis zur Wahl gar nicht mehr machbar.

Ich höre raus: Sie haben noch Zweifel, dass bis zum September eine Pflegereform verabschiedet wird.

Andreas Wedeking: Seit dem 2. Juni wissen wir, dass die Regierung einzelne Teile in das laufende  Gesetzgebungsverfahren einbringen wird. Dazu gehören die Tariftreueregelung, die angestrebte bessere Personalausstattung und die Bezuschussung der Eigenanteile. Bedauerlicherweise greift die Große Koalition wichtige Themen wie Verbesserungen der Leistungen für Verhinderungspflege und die Tagespflege, die pflegende Angehörige zur punktuellen Entlastung nutzen wollen und müssen, nicht auf. Auch wenn Herr Spahn darum bittet, bei der Kritik an der Pflegereform etwas herunterzufahren: Von einer Reform, die diesen Namen verdient, erwarte ich mir als Wähler etwas mehr.

Andreas Wedeking

Foto: Benjamin Pritzkuleit

Der Sozialpädagoge ist seit dem 1. Januar 2019 Geschäftsführer des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland e.V. (VKAD). Der VKAD ist ein bundesweit tätiger und selbstständiger Fachverband für die Altenhilfe innerhalb des Deutschen Caritasverbands mit Sitz in Freiburg im Breisgau. Der Verband hat rund 1.150 Mitglieder, die mehr als 900 Alten- und Pflegeheime betreiben. Zum Amtsantritt von Wedeking hatte der Verband den Sitz der Geschäftsführung von Freiburg nach Berlin verlegt. Zuvor arbeitete der gebürtige Westfale in der Jugend- und Eingliederungshilfe und leitete später zwei Seniorenheime der Seniorenhilfe SMMP gGmbH (Ordensgemeinschaft der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel). "Früher habe ich mich oft über politische Entscheidungen geärgert, die wir an der Basis ausbaden müssen. Das ist auch der Grund, warum ich diese Position angenommen habe", sagt Wedeking.

Ende Februar gab es bereits einen Vorstoß von Minister Heil, einen flächendeckenden Branchentarif in der Altenpflege einzuführen. Dieser scheiterte daran, dass die Arbeitsrechtliche Kommission (ARK) des Deutschen Caritasverbandes ihre Zustimmung verweigerte, den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, den die Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und ver.di ausgehandelt haben. Fühlen Sie sich zu Unrecht an den Pranger gestellt?

Andreas Wedeking: Ich finde die Bezeichnung unangemessen. Wie Sie richtig gesagt haben, war es die ARK der Caritas, die diesen Flächentarif abgelehnt hat, nicht die Caritas. Wir haben es hier mit Tarifautonomie zu tun, und diese wird auch in der Caritas gelebt. Das heißt, ein Präsident oder ein Vorstand regiert nicht in die Entscheidung der ARK hinein. Die ARK hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Und es muss auch jemand von der Dienstnehmerseite gegen den vorgelegten Flächentarifvertrag gestimmt haben, denn die Kommission ist paritätisch besetzt. Diese Argumente und Überlegungen kommen mir in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz.

Was spricht aus Ihrer Sicht gegen den vorgelegten Vertrag?

Andreas Wedeking: Eine Zustimmung der ARK zu einem Flächentarifvertrag hätte langfristig dazu geführt, dass Caritas-Mitarbeitende und -Auszubildende weniger Gehalt bekommen. Denn dann hätten die Pflegekassen in den Rahmenverhandlungen mit den einzelnen Einrichtungen auf diesen Vertrag verwiesen nach dem Motto: Wenn Ihr als Caritas Euren Mitarbeitenden mehr zahlen wollt, gerne, aber dann auf Eure Kosten. Das kann sich natürlich ein gemeinnütziger Träger nicht leisten. Der abgelehnte Tarifvertrag hatte auch viele Regelungen nicht inkludiert, die in den kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen drin sind, wie Überstundenregelung, betriebliche Altersvorsorge und passgenaue Arbeitszeitmodelle. Das wird einfach verkannt, und ich finde es unfair, wenn wir mit einem Vertrag, der für 70.000 Pflegekräfte in den privaten Einrichtungen des BVAP verhandelt wurde, ein Tarifwerk in Frage stellen, das sich an unsere hundertfünfzigtausend Mitarbeitenden wendet.

Andreas Wedeking

Geschäftsführer VKAD

Ich bin nicht gegen höhere Mindestlöhne in der Pflege. Nur der Weg ist der falsche.

Die Ablehnung hat aber auch dazu geführt, dass viele Pflegekräfte in privaten Einrichtungen erst mal nicht mehr verdienen. Sind Sie gegen höhere Mindestlöhne in der Pflege?
Andreas Wedeking: Nein, auf keinen Fall. Nur der Weg ist der falsche. Der Vertrag widerspricht einfach unserer Einstellung, dass es guter Rahmenbedingungen in der Pflege bedarf. Und dazu gehört, dass wir Mitarbeitende fair bezahlen. Hätten wir einer langfristigen Absenkung zugestimmt, dann machten wir uns unglaubwürdig. Hinter dem vorgelegten Tarifvertrag stehen auch arbeitspolitische Interessen. Verdi sieht den dritten Weg schon länger kritisch. Ich bewerte den dritten Weg aber als eine sehr gute Lösung, weil wir hier von einer Dienstgemeinschaft sprechen, bei der Dienstnehmer und Dienstgeber gleichberechtigt in – ja, oft zähen und langen – Verhandlungen Lösungen miteinander ausgehandelt haben, die gut sind. Das bestätigen uns auch unsere Mitarbeitenden.

Was wäre der richtige Weg?
Andreas Wedeking: Der richtige Weg ist, die Refinanzierung der Lohnkosten an Tarife beziehungsweise kirchenarbeitsrechtliche Regelungen zu binden, so wie es jetzt in den aktuellen Änderungsanträgen des Kabinetts vorgesehen ist. Die geplante Tariftreueregelung bedeutet, dass künftig nur noch Anbieter, die tarifgebunden sind oder eine tarifliche Entlohnung anwenden, durch die Kassen zur Versorgung zugelassen werden. Die Regelung weist aber in der jetzigen Fassung noch Schlupflöcher auf. Es muss grundsätzlich in allen Regionen möglich sein, auch bundesweite Flächentarife anzuwenden.

Das bedeutet, für einen Versorgungsvertrag müssen Einrichtungen künftig nach einem Tarif zahlen, aber nicht alle nach dem gleichen Tarif?
Andreas Wedeking: Der Kabinettsentwurf sieht vor, dass ab dem 1. September 2022 nur Versorgungsverträge mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden dürfen, die einen Tarifvertrag oder eine kirchliche Arbeitsrechtsregelung vereinbart haben. Alle anderen  Pflegeeinrichtungen werden nur dann einen Versorgungsvertrag erhalten, wenn sie eine Entlohnung zahlen, die 1. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen räumlicher, zeitlicher, fachlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist, 2. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen fachlicher Geltungsbereich mindestens eine andere Pflegeeinrichtung in der Region erfasst, in der die Pflegeeinrichtung betrieben wird, und dessen zeitlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist. Hier gründen sich noch die Unterschiede. Aber unser Ziel sollte sein: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Denn die Pflege ist überall gleich anspruchsvoll, die Bewohnerinnen und Bewohner werden überall nach den gleichen Pflegegraden eingestuft.

Welche wesentlichen Verbesserungen würden der Entwurf von Jens Spahn und die jetzt vorgelegten Änderungsanträge sonst bringen – einerseits für die Pflegekräfte, aber natürlich auch für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen?
Andreas Wedeking: Um bessere Rahmenbedingungen für die Pflege zu erreichen, brauchen wir mehrere Säulen. Eine ist die angemessene Bezahlung. Dann die generalistische Ausbildung von Pflegefachfrauen und -männern, die seit Januar 2020 umgesetzt wird. Dazu gehört für mich auch die Angleichung der Assistenzausbildungen. Die ist noch nicht abgeschlossen. Ebenso die Steigerung des Akademisierungsgrades in der Pflege und auch die Schaffung der entsprechenden Voraussetzungen. Das sind alles noch offene Fragen. Aber die Konzertierte Aktion Pflege

… die 2018 von der ehemaligen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und den Ministern Heil und Spahn ins Leben gerufen wurde, um die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften zu verbessern sowie die Ausbildung zu stärken
Andreas Wedeking: … hat ja noch bis 2023 die Türen offen. Also hoffe ich, dass da noch weitere Verbesserungen kommen. Weiterhin ist wichtig, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker Berücksichtigung findet und dass wir dann eine gute, rasche und refinanzierte Umsetzung der Digitalisierung auf den Weg bringen. Die neuen Entwürfe sehen auch den Abbau der ein oder anderen bürokratischen Hürde vor. Und dann ist es wichtig – und das geht jetzt schon mehr in die Richtung der pflegenden Angehörigen –, dass Angebote wie Tagespflege, Nachtpflege sowie Angebote zur Verhinderungs- und Kurzzeitpflege auskömmlich finanziert und gestaltet werden können.

Warum ist Ihnen dieser Teil so wichtig?
Andreas Wedeking: Der größte Pflegedienst in Deutschland sind die pflegenden An- und Zugehörigen, und sie brauchen Entlastung. Es gibt immer wieder Krisen mit den Pflegebedürftigen oder die Pflegenden selbst haben ein Problem. In diesem Fall brauchen sie die Sicherheit, dass sie auf die oben beschriebenen Angebote zurückgreifen können. Die Betreuung eines beispielsweise an Demenz erkrankten Menschen ist extrem kräftezehrend. Diese Menschen verändern sich sehr stark, und da sind Tages- oder Nachtpflege eine wichtige Entlastung. Nachbesserungsbedarf sehe ich auf jeden Fall noch bei den ambulanten Wohngemeinschaften. Sollte es tatsächlich zu einer Entlastung der pflegebedingten Kosten im stationären Bereich kommen, ist zu überlegen, wie ambulant betreute Wohngemeinschaften dem gleichzustellen sind. Denn nur wenn die Eigenanteile, zumindest bei den pflegebedingten Kosten, vergleichbar sind, kann sich eine pflegebedürftige Person frei entscheiden, welche Pflege- und Betreuungsform sie wählen möchte.  Auch für die Anbieter von stationären und ambulanten Angeboten ergibt sich daraus eine Marktgerechtigkeit.

Wie stehen Sie eigentlich zu privaten Anbietern?
Andreas Wedeking: Ich persönlich finde, die Pflege sollte mehrheitlich in der Hand der Wohlfahrtspflege bleiben, das heißt: Anbieter von Pflegeleistungen sollten gemeinnützig agieren, denn dann fließen alle erwirtschafteten Erlöse diesem System auch wieder zu. Es ist unsäglich, dass Aktiengesellschaften aus unserem System, das ja sowieso schon sehr stark belastet ist, Renditen abziehen auf Kosten zum Beispiel von Mitarbeitenden und teilweise auf Kosten der Qualität. Das erfordert nicht, dass Anbieter konfessionell gebunden sein müssen. Es gibt auch viele gute private Anbieter, vor allem unter den familiengeführten Unternehmen. Wenn von den Privaten gesprochen wird, dann werden oft die vergessen, die ordentlich arbeiten.

22. VKAD Bundestagung

"Vielfalt sichert Zukunft. Altenhilfe gestalten", lautet das Motto der VKAD Bundestagung, die am 8. und 9. Juni stattfindet – in diesem Jahr als digitaler Kongress. Dort zeigt der VKAD zahlreiche Wege zur Gestaltung der Zukunft in der Altenhilfe. Hierzu zählen für den VKAD insbesondere die Ausgestaltung der Digitalisierung in ihren vielfältigen Facetten. Angewandt und weiterentwickelt von personalgemixten Teams, unterstützt von Startups und im Verbund zahlreicher Netzwerke können so praxistaugliche und unterstützende Lösungen gefunden werden.
https://www.vkad.de/angebote/veranstaltungen/bundestagung/22.-bundestagung-digitale-veranstaltung

Kommen wir nochmal auf Herrn Spahn zurück. Er ist auch Gast bei Ihrer Bundestagung, die am 8. und 9. Juni in Berlin stattfindet. Welche Botschaft erhoffen Sie sich von ihm?
Andreas Wedeking: Grundsätzlich sollten wir anerkennen, dass in der vergangenen Legislaturperiode durch ihn schon vieles erreicht worden ist. Er hat Pflege zum Thema gemacht, bis Corona dazwischenkam. Ich würde mir wünschen, dass man aus der Pandemie die Lehren gezogen hat, dass Pflege kein parteipolitisches Thema sein darf, sondern dass sie ein gesamtgesellschaftliches Thema ist, das die künftige Regierung – egal wie sie zusammengesetzt ist –, sofort in den Blick nehmen muss. Wenn wir weiter gut zusammenleben wollen, dann müssen wir gemeinsam überlegen, was uns Bildung, Erziehung, Betreuung, Pflege und das Gesundheitssystem eigentlich wert sind. Denn in der Corona-Krise haben wir gesehen, wie existenziell diese Bereiche sind. Wenn jetzt in dem Entwurf davon die Rede ist, dass 640 Millionen zur Finanzierung der Behandlungspflege im stationären Bereich zur Verfügung gestellt werden, klingt das erst mal nach viel. Ich darf aber darauf hinweisen, dass der VKAD schon 2017 in einer Studie berechnet hat, dass sich diese Kosten eigentlich auf 2,8 Milliarden bis 3,4 Milliarden Euro belaufen. Und ich würde mir auch wünschen, dass die Politiker noch häufiger den Menschen aus der Praxis zuhören, damit wir Lösungen finden, die politisch vertretbar, gesellschaftlich anerkannt und gerecht sind und an der Basis auch umsetzbar. Ich glaube, dann können wir auch eine Pflegereform anstoßen, bei der die Gesellschaft sagt: Ja, ich bin einverstanden, dass meine Steuergelder für diese Zwecke verwendet werden.

Ihr Ansprechpartner bei der Pax-Bank

Joachim Klein

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